Eigentlich reichen doch zum Vergleich zweier Tonaufnahmen identische Hörbedingungen (beim Hören dieser Aufnahmen) aus, oder? Und wenn ich davon ausgehe, dass sich mein ästhetisches Empfinden massiv an meiner Vorerfahrung orientiert, so ists kaum verwunderlich, dass viele eine Aufnahme die unter neutralen Hörbedingungen wiedergegeben wird nicht ästethisch empfinden, wenn sie vorher zum Beispiel immer mit maximalem Bass gehört haben (übertrieben formuliert).
Hallo,
identische Hörbedingungen reichen nicht aus. Das kann man sogar ganz praktisch erläutern:
Viele Mischungen sog. populärer Musik sind daraufhin optimiert, unter schlechten Hörbedingungen (Autoradio, Kofferradio, Ghettoblaster) bei möglichst vielen Hörern eine positive ästhetische Beurteilung zu verursachen (im einfachsten Fall: "Gefällt mir!"), um einen Kauf auszulösen.
Dazu werden verschiedene Verfahren angewendet, so wird z.B. die Dynamik stark komprimiert, damit das leistungsschwache Wiedergabegerät wenig verzerrt und sich das Programm gut gegen Hintergrundgeräusche durchsetzt, Frequenzbereiche, die "mulmig" klingen, werden abgesenkt, es findet sich ein sehr sauberes Direktschallsignal (kein Raumanteil) in den Aufnahmen, damit der Mix auch noch bei einem Überwiegen des Diffusfeldes klar und sauber klingt.
Der Gegenpol dazu wäre eine dokumentarische Aufnahme eines elektrisch nicht verstärkten Konzertes, z.B. einer Sinfonie. Die weite Dynamik würde zu fürchterlichen Verzerrungen leistungsschwacher Wiedergabegeräte führen, leise Stellen werden von Hintergrundgeräuschen überdeckt, der aufnahmeseitig vorhandene Raumanteil überlagert sich mit einem wiedergabeseitigen, was mehr oder weniger zu einem Klangbrei führt. Die Folge wird eine negative ästhetische Beurteilung sein, wenn die Wiedergabe unter o.g. schlechten Hörbedingungen erfolgt.
Bei guten Hörbedingungen kann sich das Bild dann umkehren. Die erste Mischung wird dann oft mit Attributen wie "synthetisch, steril, leblos, tot, unnatürlich" bedacht, das Urteil ist negativ, während das Klangbild der zweiten Aufnahme nun zu einem positiven Urteil führt. Dies kann von Individuum zu Individuum schwanken, entspricht allerdings meiner Erfahrung dem typischen Urteil eines Normalhörers.
Dies ist aus meiner Sicht ein Dilemma des Marktes, schlechte Hörbedingungen ziehen auf schlechte Hörbedingungen optimierte Tonaufnahmen nach sich und solche Aufnahmen führen bei der subjektiven Evaluation von Hörbedingungen mit ebendiesen Tonaufnahmen zu einer Präferenz bezüglich schlechter Hörbedingungen.
Die Durchbrechung des Teufelskreises, daß Lautsprecher (besser: Hörbedingungen) mit Tonaufnahmen beurteilt werden und Tonaufnahmen mit Lautsprechern (besser: Hörbedingungen) ist nur möglich, indem man die Hörbedingungen nach objektiven, wissenschaftlichen Kriterien herstellt, d.h. nicht mit seinen "Lieblings-CDs" nach einem trial and error Verfahren zur Auwahl der Hörbedingungen schreitet. Die erforderlichen wissenschaftlichen Kenntnisse dafür stehen zur Verfügung, man muß sie nur umsetzen.
Gruß
Andreas