in letzter Zeit kam es vermehrt zu der Problematik, daß manche Diskussionsteilnehmer nicht willens oder nicht in der Lage sind, zwischen den beiden Sphären der Musikwiedergabe, der Kunst einerseits und der Technik anderererseits, hinreichend zu trennen.
Ich habe an anderer Stelle mehrfach den aus meiner Sicht sehr wesentlichen Satz formuliert:
Neutrale (d.h. unverzerrte) Hörbedingungen sind die Voraussetzung zur ästhetischen Beurteilung einer Tonaufnahme.
Beim individuellen ästhetischen Urteil über eine Tonaufnahme spielen Erwartungshaltung und Rezeptionshaltung des Individuums eine erhebliche Rolle. Eine Tonaufnahme beinhaltet einerseits die Musik (Harmonik, Melodik, Rhythmik, Kontrapunktik, Artikulation, Phrasierung usw.) und anderseits das Klangbild. Beide Komponenten gehören der Sphäre der Kunst an, sie sind nicht objektivierbar, sondern Geschmacksfrage.
Nun schreibt AreaDVD:
Offenbar besteht seitens des Hörers eine Erwartungshaltung, daß die Wiedergabe so klingen solle, wie die Instrumente in seinem Raum. Dieser Erwartungshaltung kann eine Tonaufnahme nur gerecht werden, wenn sie in dem eigenen Hörraum mit einem Stereo-Hauptmikrophon aufgenommen worden wäre. Daher ist diese Erwartungshaltung bei der großen Mehrzahl der Tonaufnahmen nicht angemessen.die Instrumente werden beim Aufnehmen doch schließlich in Studios aufgenommen und dank der dort vorherrschenden "toten" Raumakustik auch entsprechend auf das Medium verbannt. Wenn man nun zuhause mit einer perfekt (soweit es eben geht) neutralen Anlage dieses Medium wiedergibt, habe ich zwar (im glücklichsten Fall) en Klang im Tonstudio - aber nicht den Klang, wie es dieses Instrument in meinem - oder einem anderem "normalen" Raum gehabt hätte, da dort ja ebenfalls die Raumakustik (Raummoden , Abstrahlverhalten) etc. eingewirkt hätten.
Ich wiederhole hier nochmals den wichtigen Satz: Neutrale (d.h. unverzerrte) Hörbedingungen sind die Voraussetzung zur ästhetischen Beurteilung einer Tonaufnahme.
Weiter muß ich anmerken, daß die Aussage nicht allgemein richtig ist, die Instrumente würden in einem Studio mit toter Akustik aufgenommen. Es gibt verschiedene Aufnahmeverfahren am Markt, wobei dies nur eines von mehreren ist.
Es handelt sich dabei um sog. "Nahaufnahmen", wobei jedes Instrument mit einem nah positionierten Mikrophon mono aufgenommen wird und anschließend meist via Pegeldifferenzen irgendwo auf der Stereobasis plaziert wird. Zum Schluß wird eine künstliche Raumwirkung, meist in Form von synthetischem Hall zugegeben.
Ebensogut kann man die Originaldarbietung in einer dem Genre angemessenen Akustik (Kirche, Konzertsaal, Kammermusiksaal) mit einem Stereo-Hauptmikrophon aufnehmen.
Die sog. Nahaufnahme hat ein Klangbild zur Folge, bei dem die Phantomschallquellen ausdehnungslose Punkte auf der Stereobasis darstellen, eine räumliche Tiefenstaffelung ("Klangbühne") gibt es ebensowenig, wie eine natürliche Klangfarbe, da der Diffusfeld-Frequenzgang (Richtcharakteristik) der Instrumte in der Aufnahme nicht vorhanden ist. Die Instrumente klingen, wie ein Synthesizer (Ein- und Ausschwingverhalten sowie Oberwellen stimmen, Richtcharakteristik fehlt). Dafür ist alles sehr deutlich und direkt zu hören.
Die Aufnahme im Konzertsaal mit einem Stereo-Hauptmikrophon führt zu einem ganz anderen Klangbild. Da die Richtcharakteristik der Instrumente im Form des Diffusfeldes des Ursprungsraumes in der Aufnahme vorhanden ist, klingen die Instrumente wie von der Originaldarbietung gewohnt, zudem gibt es eine räumliche Tiefenstaffelung ("Klangbühne"), die Phantomschallquellen sind auch nicht als Mono-Punkte in der Stereobasis angeordnet, wie bei der Nahaufnahme.
Dabei stellen die genannten Fälle nur die Grenzwerte da, die Übergänge zwischen den Verfahren sind fließend.
(1) Polymikrophonie, d.h. Nahaufnahme, jedes Instrument wird einzeln als trockenes Mono-Signal aufgenommen und nachträglich am Mischpult auf eine Stelle in der Stereobasis plaziert ("Mono-Hühner")
(2) Polymikrophonie mit Raummikrophonen, wie (1) nur wird mit einem Stereo-Hauptmikrophon der Gesamtklang in größerem Abstand im Raum aufgenommen und den "Mono-Hühnern" zugemischt.
(3) Stereo-Hauptmikrophon mit Stützen, ähnlich wie (2), nur daß hier der Pegel des Stereo-Hauptmikrophons größer ist, während die dichter am Instrument aufgenommen Stützmikrophone mit geringem Pegel zugemischt werden
(4) Stereo-Hauptmikrophon, hierbei kommen nur zwei Mikrophone ohne Stützen zum Einsatz, wobei verschiedene Techniken, wie die Laufzeitstereophonie (A/B, Nutzung von Laufzeitdifferenzen), die Instensitätsstereophonie (X/Y, M/S, Nutzung von Pegeldifferenzen) oder die Äquivalenzstereophonie (z.B. ORTF, Nutzung von gleichsinnigen Pegel- und Laufzeitdifferenzen) angewendet werden können.
Beispiele für die genannten Extremfälle findet man bei älteren Jazz-Aufnahmen, wo sogar unverhallte Nahaufnahmen üblich sind, oder andererseits für das Stereo-Hauptmikrophon bei "one-Point" Aufnahmen, die man vorwiegend bei Klassikproduktionen (alten wie neuen) antrifft.
Populäre Musik gehört fast immer in Kategorie (1), allerdings wird das Klangbild zu Teilen oft nicht "aufgenommen", sondern in einem Synthesizer erzeugt.
Um eine ästhetische Beurteilung des Klangbildes vornehmen zu können, sind neutrale Hörbedingungen die Voraussetzung. Ob ein Individuum dann die extreme Deutlichkeit der Nahaufnahme rühmt und sich an der phantastischen Präzision und Durchhörbarkeit erfreut, oder ob ein Individuum die völlig unnatürliche Raumwirkung und Klangfarbe bemängelt, hängt von seiner Rezeptionshaltung und Erwartungshaltung ab.
Ob umgekehrt ein Individuum die wunderbare Räumlichkeit und Natürlichkeit der Klangfarben einer Bühnenaufnahme mit einem Stereo-Hauptmikrophon rühmt, oder ob ein Individuum die mangelnde Transparenz und Durchsichtigkeit dieser Aufnahmen kritisiert, hängt wiederum von Rezeptionshaltung und Erwartungshaltung ab.
Ich persönlich versuche, an unbekannte Tonaufnahmen so unbelastet wie möglich heranzugehen und sie nicht gleich sofort an einer eigenen Erwartungshaltung zu messen. So wird man den Tonaufnahmen meiner Ansicht nach am ehesten gerecht und lernt immer wieder etwas dazu. Nicht alles, was mir nicht (sofort) gefällt, gefällt mir auf Dauer nicht, nicht alles, was mir auf Dauer nicht gefällt, ist schlecht. Vielleicht, ja wahrscheinlich gibt es andere, die das schätzen, was ich nicht schätze.
Um aber überhaupt ein ästhetisches Urteil über eine Tonaufnahme treffen zu können, sind neutrale (d.h. unverzerrte) Hörbedingungen die Voraussetzung. Eine Nahaufnahme sollte deutlich als solche zu erkennen sein und eine Bühnenaufnahme ebenso.
Ich betone nochmals, das dies alles freibleibende Angebote sind, niemand muß dem folgen.
Wenn wir anfangen, Aufnahmeästhetik, Musik, Emotion mit Wiedergabetechnik zu mischen, dann führt dies dazu, daß eine ästhetische Beurteilung von Tonaufnahmen nicht mehr erfolgen kann. Mangelhafte Wiedergabetechnik führt mehr oder weniger automatisch zu Urteilen, die unter neutralen Hörbedingungen nicht getroffen worden wären.
Daher ist meine Empfehlung, die Sphären von Kunst und Technik strikt zu trennen und die Tonwiedergabetechnik nicht in den Bereich der Kunst, in den Bereich des Subjektiven und des Geschmackes hineinzuziehen. Unter diesem Aspekt sind auch meine Aussagen zu verstehen, daß es durchaus im technisch-wissenschaftlichen Sinne allgemein richtige Hörbedingungen gibt. Das die Wiedergabe irgendeiner Tonaufnahme unter diesen Hörbedingungen bei irgendeinem Individuum ein negatives ästhetisches Urteil zur Folge haben kann, ist nur natürlich. Das ändert aber an der physikalischen Richtigkeit der Hörbedingungen nichts. Das negative ästhetische Urteil (was von anderen Individuen nicht geteilt werden muß) bezieht sich dann aber sicher auf die Tonaufnahme.
Vielleicht wird klar, warum es so problematisch ist, Lautsprecher (Hörbedingungen) mit Tonaufnahmen zu bewerten und Tonaufnahmen mit Lautsprechern (Hörbedingungen). Zweiteres ist nicht anders zu bewerkstelligen, eine Tonaufnahme kann nur durch Hörbedingungen hörbar gemacht werden. Aber bei den Hörbedingungen können wir diesen Teufelskreis durchbrechen, indem wir diese nicht nach subjektiven, sondern nach wissenschaftlichen, objektiven Kriterien gestalten.
Gruß
Andreas