Womit wir wieder beim systemischen Denken wäre: das Drehen an einer Schraube hat viel weitreichendere Auswirkungen, als man zunächst denkt.
Dieses Zitat von horch! halte ist für absolut zutreffend und für weiterführend! Aber was folgt denn daraus? Wir müssen doch erkennen, dass wir es in einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit ungeheuer komplexen Strukturen und ungeheuer großem, aber dezentralem Wissen zu tun haben. Niemand, keine noch so großen Experten und auch (und erst recht) keine staatliche Bürokratie, verfügt über das gesamte Wissen, was notwendig wäre, um diese komplexen Prozesse ergebnisgerichtet zu steuern.
Deshalb sollten wir uns in einer offenen Gesellschaft (und hierzu gehört notwendig die Marktwirtschaft) darauf beschränken, den allgemeinen Rahmen vorzugeben. Notwendig sind deshalb möglichst allgemeine Regeln, die keine konkreten Sachverhalte und keine konkreten Personengruppen im Blick haben. Das ist übrigens ein Verfassungsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 1 Satz 1, der allerdings in der Gesetzgebung - mit der Billigung der Rechtsprechung - leider weitgehend unbeachtet bleibt. Stattdessen neigt der demokratische Gesetzgeber dazu, gezielt und ergebnisgeleitet per Gesetz in die komplexen Strukturen der offenen Gesellschaft einzugreifen (zu intervenieren). Er dreht also, um die Worte von horch! zu gebrauchen, mit bestimmter Zielsetzung an einer Schraube und erreicht damit - möglicherweise - das von ihm gewünschte Ergebnis. Die vielfältigen und oft negativen Auswirkungen auf andere Personen und Sachverhalte bleiben ausgeblendet - teils bewusst, teils aber auch schlicht deshalb, weil sie nicht vorhersehbar sind.
Welche Schlussfolgerungen zieht nun der Liberalismus aus diesem Befund? Zum einen die bereits erwähnte Beschränkung auf möglichst allgemeine Regelungen, also das Absehen von interventionistischer, einzelfallorientierter Gesetzgebung, zum anderen die damit einhergehende Forderung, dass der Staat sich auf das absolut Notwendige beschränkt und den Selbstregulierungskräften weitgehenden Spielraum lässt.
Das gilt auch und gerade für den hier immer wieder ins Treffen geführten Bereich der Moral. Der Liberale weiß um die große Bedeutung, die der allgemeinen Moral in einer freien Gesellschaft zukommt. Umso mehr Freiheit den Menschen gelassen wird, umso wichtiger sind moralische Standards als Selbstregulativ. Umso mehr den Menschen Handlungsfreiheit genommen wird, indem der Staat alle Lebensbereiche regelnd erfasst, umso weniger Bedarf gibt es für individuelle Moral. Individuelle Moral kann und wird sich überhaupt nur bilden können, wenn es substantielle Handlungsspielräume gibt. Insofern wird eine offene Gesellschaft mit einem größtmöglichen Freiheitsraum für alle Menschen aller Voraussicht nach die weit ausgeprägteren moralischen Standards haben als eine Gesellschaft mit wenig individuellem Handlungsspielraum. Auch Moral kann nur wachsen, wenn man ihr Entfaltungsraum belässt. Moral wird sich niemals per Gesetz verordnen lassen.
Um aus diesen sehr abstrakten Überlegungen in die konkrete Wirklichkeit zurückzukehren: Je weiter wir etwa den Sozialstaat ausbauen, umso weiter entlasten wir jeden einzelnen von moralischer Verantwortung für seine Mitmenschen. Früher war das, was wir als "sozial" bezeichnen, in allererster Linie Aufgabe des Familienverbundes, dann, in zweiter Linie, Aufgabe kleinerer Gemeinschaften wie etwa einer Dorfgemeinschaft oder anderer Institutionen wie der Kirche. Das bedeutete für jeden einzelnen eine hohe moralische Verantwortung. Jeder wusste, dass wenn er sich nicht entsprechend den moralischen Vorstellungen der Familie oder der Dorfgemeinschaft oder anderer sozialer Institutionen verhielt, er die Unterstützung dieser sozialen Gruppe verlieren würde. Umgekehrt konnte jeder darauf bauen, nicht im Stich gelassen zu werden, wenn er sich entsprechend den moralischen Standards verhielt.
Das ist heute natürlich komplett anders. Wir pflegen eine hochgradig individualistische Lebensweise und sind stolz darauf, uns nicht "verbiegen" zu müssen. Das hat mit Liberalismus nichts zu tun. Denn diese individualistische (oftmals auch hedonistische) Lebensweise ist in vielen Fällen (selbstverständlich und zum Glück nicht immer!) verbunden mit einer hohen Verantwortungslosigkeit im Sinne einer schlicht nicht vorhandenen Verantwortung für andere Menschen. Denn es gibt immer mehr staatliche oder staatlich geförderte Institutionen, an die die Verantwortung delegiert werden kann. Wir können das begrüßen; nur müssen wir uns darüber im Klaren sein, welchen Preis wir dafür zahlen: nämlich dass dieser Umstand zu einem schrittweisen Abbau moralischer Standards, oder anders gewendet, zu einem Abbau von Mitmenschlichkeit führt. Deshalb die These des Liberalismus, dass nur eine freie Gesellschaft mit einem auf das notwendige beschränkten Staat und einem Gesetzgeber, der sich auf möglichst abstrakte, allgemeingültige Gesetze beschränkt, eine moralische, mitmenschliche Gesellschaft sein kann. Ich hatte das sehr verkürzt versucht, in der These zum Ausdruck zu bringen, dass Moral immer nur eine individuelle, nie aber eine kollektive sein kann.
Niemand mache sich also falsche Vorstellungen: Eine Gesellschaft, wie sie sich der Liberalismus vorstellt, also eine wirklich freie Gesellschaft mit einem starken, aber schlanken Staat würde für jeden einzelnen weitaus mehr moralische Verantwortung bedeuten als unsere heutige Gesellschaft. Wir hätten also höchstwahrscheinlich keine Ansammlung asozialer Raubtiere, die hemmungslos ihren materiellen Vorteil suchen, und zwar auf Kosten ihrer Mitmenschen, sondern wohl das genaue Gegenteil: nämlich Menschen, die in höchstem Maße darauf bedacht wären, moralischen Standards zu genügen, um nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Eine verantwortungslose, individualistisch-hedonistische, nur am Eigennutz orientierte Lebensweise gibt es nur, und wohl erstmals in der Geschichte der Menschheit, in den modernen Sozialstaaten. Dass diese in der heutigen Form nicht zu halten sein werden, liegt angesichts der völligen Überschuldung auf der Hand. Ich hoffe nur, dass dann die Alternative nicht in totalitären Systemen, sondern in der Besinnung auf eine Gemeinschaft freier Menschen gesucht wird.
Viele Grüße
Genussmensch