Hallo Gerald,
mein aufrichtiges Beileid zu deinen Plänen!
Ich habe mich selbst schon mit der Basspartie herumquälen müssen und kann insofern nachvollziehen, was du meinst. Allerdings liegt mir speziell Beethovens Neunte (wie auch seine überschätzte Missa solemnis) geschmacklich so fern, dass ich persönlich nicht auf die Idee käme, einer Aufnahme sängerisch nacheifern zu wollen, und sei sie noch so gelungen. Warum viele klassische Konzertbesucher und -veranstalter dieses Werk für das Jahreswechsel-Programm als unverzichtbar ansehen, kann ich nicht begreifen. Nach meinem Eindruck muss Beethoven den Chorsänger entweder gehasst haben oder er war schlicht unfähig für Sänger zu komponieren. Dass man durchaus Geniales für Chor komponieren kann, ohne den Sänger zu foltern, lässt sich beispielhaft an Bachs H-Moll-Messe oder Brahms' Deutschem Requiem studieren.
Gleichwohl fällt es mir ausgesprochen leicht, dir Empfehlungen unter Berücksichtigung der gesetzten Kriterien auszusprechen. Eine für deine Ziele geeignete Aufnahme sollte im Chor wie im Orchester vorzugsweise eine schlanke Stimmführung pflegen, idealerweise mit professionellen Stimmen besetzt und größenordnungsmäßig eher kammermusikalisch als großsymphonisch orientiert sein. Diesen Ansatz trifft man in modernen, gut klingenden Einspielungen am ehesten bei solchen Dirigenten an, die sich der historisch-informierten Aufführungspraxis verpflichtet fühlen. Darunter sind auch Namen, die entweder selbst als Chorsänger im (Knaben-) Chor begonnen haben oder die sich über viele Jahre einen Namen als Chordirigent gemacht haben.
In dieser Hinsicht sehe ich ziemlich einsam an der Spitze, mit einigem Abstand zu den weiteren Plätzen,
John Eliot Gardiner mit seinem Monteverdi Choir. Dessen Gesamtaufnahme aller Beethoven-Symphonien sorgte bei Erscheinen vor 20 Jahren für Furore und zählt mittlerweile zu den Klassikern des Repertoires, die zahlreiche Nachahmer fand. Bei seinem Finale der Neunten habe ich das Gefühl, dass Gardiner die Musik vom Gesang her versteht und entwickelt. Entsprechendes Gewicht erhält die Chorpartie in seiner Interpretation und Aufnahme. Großen Anteil am Gelingen hat der Chor selbst, den mancher Kenner für den „weltbesten“ hält. Es sollte dir beim Hören leicht fallen, diese Einschätzung nachzuvollziehen. Dass es sich um einen britischen Chor mit leichtem, englischem Akzent handelt, fällt nicht weiter ins Gewicht. Die Jungs haben es einfach drauf.
In dieselbe Kategorie gehört
Philippe Herreweghes deutlich jüngere Aufnahme mit seinem Royal Flemish Philharmonic und dem von ihm gegründeten
Collegium vocale Gent. Auch dieser Chor meistert die Partien mühelos und ist über jeden Zweifel erhaben. Die Bläser seines Orchesters spielen wie in Gardiners Londoner ORR auf Nachbauten der zur Beethovenzeit üblichen Blasinstrumente. Die Streicher nutzen spezielle Bögen und pflegen ein nahezu vibratoloses Spiel. Beides trägt erheblich zum schlanken, transparenten Klangbild bei und begünstigt letztlich die Durchhörbarkeit in den Chorstimmen.
Etwa zeitgleich zu Gardiners CD spielte der Wiener Originalklangjünger
Nikolaus Harnoncourt mit dem vorzüglichen Chamber Orchestra of Europe die Neunte ein, allerdings auf modernem Instrumentarium, wenngleich interpretatorischer Ansatz und Orchestergröße sich ähneln. Auch der renommierte
Arnold Schoenberg Chor macht seine Sache vorzüglich. Im Vergleich zu den Vorgenannten ist für mich lediglich eine Spur an Inhomogenität der Stimmen in den Forte-Passagen hörbar. Die Einzel-CD scheint derzeit nur mit viel Glück neuwertig erhältlich zu sein. Gebraucht auf dem Amazon-Marktplatz kein Problem.
Ebenfalls der historischen Aufführungspraxis verpflichtet fühlen sich die Ensembles der Aufnahme von
Paavo Järvi. Die Kammerphilharmonie Bremen operiert mit modernen Streichern und Hölzern inkl. Hörnern, aber mit historischem Blech sowie Pauken. Der
Deutsche Kammerchor (gegründet 2001) hat zwar nicht den Bekanntheitsgrad der drei oben genannten, aber die Einspielung von 2008 fand weltweite Beachtung und darf sich mit den anderen durchaus messen.
Die im vergangenen Jahr erstveröffentlichte GA aus Leipzig mit den Ensembles des Gewandhauses unter
Riccardo Chailly kenne ich noch nicht, aber man sagt ihr eine gewisse Hochspannung und extreme Klangintensität nach. Die Qualitäten des nahe beheimateten
Gewandhauschores kennst du vielleicht sogar aus eigenem Erleben (?). Ich könnte mir vorstellen, dass er im unüberschaubaren Angebot traditioneller Aufführungen und Auffassungen ein leuchtendes Beispiel darstellt.
Nur am Rande erwähnen möchte ich zwei mir besonders nahe stehende Aufnahmen von Günter Wand (NDR Chor und SO, live 1986) und Herbert Blomstedt (Sächsische Staatskapelle Dresden, 1981). Beide werden sehr ausgewogen und überlegen musiziert aber leider oft unterschätzt. Ich vermute allerdings, dass gerade die Chöre nicht ganz deinen Vorstellungen entsprechen würden.
Mein Fazit: Die vorgestellten CDs sind allesamt empfehlenswert und sollten sich für deine Zwecke eignen. Mein Favorit unter den Bedingungen ist zweifellos Gardiner. Falls dir die Originalklang-Experten nicht recht gefallen, wären P. Järvi und Chailly ernstzunehmende Alternativen. Letztlich bleibt es Geschmacksache.
Gruß, Kaddel