Sickenzerfall (kleine Kurzgeschichte)
Verfasst: Di 5. Okt 2004, 19:01
Hallo alle miteinander,
habe am Wochenende mal wieder ein Schlüsselerlebnis gehabt: Ein Freund rief an und lud mich und meine Frau zum Abendessen beim Italiener ein, weil ich seinen Rechner in einer mehrstündigen Aktion von 145 Viren und ebenso vielen Trojanern befreit hatte und die Kiste wieder normal lief.
Das Abendessen war prima, die Stimmung ebenso und so luden er und seine Frau uns noch zu sich nach Hause ein. Das ließen wir uns selbstvertändlich nicht zweimal sagen und kamen der Aufforderung, noch gemütlich ein Fläschchen italienischen Rotweines zu genießen, gerne nach. Während unserer Gespräche über die Wechselfälle des Lebens, welche durch die beiden Damen um immer überraschende Wendungen bereichert wurden, sprachen wir Männer über Surfbretter, Autos und auch ein wenig über sonstige Technik. Stolz wurde mir hierbei ein Oldtimer der besonderen Art vorgeführt: Eine Pioneer HPM-40 Box. Ein Kracher der späten 70ern aus damaligem Schrot und Korn.
Gegen Mitternacht wurde ich schläfrig. Der Klang der Boxen konnte mich überhaupt nicht überzeugen. Meine Frau übrigens auch nicht. Müde, lustlos und seltsam bassschwach ergoss sich eine matte Klangkulisse leise in den Raum. "Waren damals sehr teuer, weißt du", wurde ich aufgemuntert, "haben auch einen unheimlichen Bass!". Seltsamerweise blieb der mir ebenso verborgen, wie der Grund dafür, die dunklen Kästen direkt auf den Boden der Raumecken zu stellen. O.K., die Grünlilie auf dem rechten Quader und der junge Säulenkaktus auf dem Linken sahen gesund aus. Was aber nicht für den Klang der Untersetzer galt.
Wieso war der so dünn? In einer Raumecke! Auf dem Boden! Natürlich, einer der LS war verpolt und arbeitete gegenphasig, schon klar. Mit einem beherzten Griff zum Balanceregler drehte ich dem rechten Töner den Klang ab und lauschte nur dem linken Gegenstück. Immer noch basschwach. Hm. "Hatten die mal mehr Bass? So vor 10 Jahren oder so?". "Ja, da kannst du Recht haben. War früher schon mal besser. Aber weißt du, ein Bekannter hat die mal vor ein paar Jahren repariert. Da haben die Tieftöner so komisch geschnarrt." Eine dunkle Ahnung stieg in mir auf. Behende turnte mein Freund zur linken Box und zog mit einem zugegegebenermaßen gekonnten Griff die Bespannung ab.
Es war nicht der Rotwein, der mir beim Betrachten der reparierten Tieftöner fast die Beine wegzog.
"Er hat mir gesagt, dass man das so machen könnte. Na ja, sieht schon ein bisschen komisch aus. Hat er irgendwie mit Filzstreifen und einem Lack hingekriegt und jetzt schnarren sie nicht mehr!" sagte er leichthin und betrachtete meine entgleisten Gesichtszüge. "Schon gut," meinte ich resignierend "aber da hätte er besser mal die Tieftöner ausgetauscht und durch ein passendes Modell ersetzt". "Hast schon recht, wäre aber teurer geworden!" Stringente Logik erfüllt den Raum. Ich ertaste die lackierte Membran des Tieftöners und das raue steinharte Gewurstel, welches sich vor Jahren vergeblich anschickte, eine reparierte Zentrierung zu werden. "Sickenzerfall. Die vordere Zentrierung bestand vermutlich aus ungeeignetem Material. Da kannst du überhaupt nichts dafür. War eine falsche Werkstoffwahl in den 70ern. Ehrlich. Und der Filz hat den Lack aufgesaugt und ist hart geworden wie die Leber eines Trinkers. Und nun machen die Tieftöner keinen Hub mehr. " Das Gesicht meines Bekannten hellt sich auf. Die Situation scheint gerettet.
"Sittenverfall??" tönt es aus der Umgebung des Couchtisches. Zwei weibliche Augenpaare flammen mich an. Frau wittert hochinteressantes Männergespräch. Erwartet umfängliche Aufklärung. "Ach so, was technisches. Hättest du doch gleich sagen können."
Hab ich doch gesagt. Könnt mir halt nicht zuhören. Immer das Gleiche. Ein müder Blick auf die Uhr verrät mir, das Mitternacht gerade vorüber ist.
"Du," flötet es von der Couch "wir haben im Schlafzimmer noch zwei Boxen. Die stehen schon 15 Jahre da. Sind aber nicht angeschlossen. Soll ich die mal holen?" Ich werde munter. Lautsprechertechnisch kann es eh nicht schlechter werden. "Klar, wenn es dir nichts ausmacht, würde mich schon interessieren.". "Die hab ich mir vor unserer Ehe angeschafft, weißt du. Aber mein Mann wollte immer seine großen Boxen hier im Wohnzimmer haben." Ah ja. Interessante Wendung. "Sind von Revox!" Ich bin schlagartig glockenwach und schaue in zwei erwartungsvoll blickende Augen. Den Blick kenne ich auch von meiner Frau. Danach wird es eigentlich immer irgendwie spannend.
Elfengleich schwebt die Hausfrau mit einer hübschen Kompaktbox im Arm zurück ins Wohnzimmer. Wieder der herausfordernd erwartungsvolle Blick der dem Mann Tatkraft abfordert. Null Problemo.
Ich Gockel - du Henne. Ist immer wieder schön. Aber nur in Gedanken. Wohl doch zu viel Rotwein.
Die alten Plärrer sind schnell abgeklemmt. Hingen eh nur an Klingeldraht. Die zweite Box wird gereicht. Nicht zu fassen. Behende den Säulenkaktus und die Grünlilie auf den Boden gestellt und Platz geschafft für die kleinen Revox aus den frühen 80ern. Irgendwas von Monitor 3 steht auf der Rückwand der damals typischerweise geschlossenen Boxen. Unangenehm die Klipp-Fix Anschlussklemmen der selben Zeit. Die fassen bloß ausgedünnte Lautsprecherkabel. Aber an der vorhandenen Magerkost-Litze gibt es eh nichts auszudünnen. 1 : 0 für den Klingeldraht.
Die schmucken Revox-Regalboxen der 80er stehen auf den Bassreflex-Wummerkisten der 70er. Soundcheck.
Sie hatten es halt drauf, die Schweizer. Ausgeglichener, lebhaft-freudig strahlender Klang macht sich breit. Sehr schön zum Anhören. Auch mit Klingeldraht. Kein Pseudobass, kein extremer Tiefbass. Aber stimmiges Klangbild. Macht heute noch Spaß. Kurzer Sicken-Check nach Abnahme eines Gitters. Prima, stabile Gummisicke. Fühlt sich an wie ein Fahrradschlauch. Nichts bröselt.
Die rechte Box wird leiser. "Ach ja, bei der hab ich mal das Anschlusskabel verlängert. Hab leider keinen Lötkolben. Verdrillt hab ich's. Mit Isolierband und so." Ich bringe ungeahnte Kräfte auf das erneute Entgleisen meiner Gesichtszüge zu verhindern. Und quetsche das PVC-Band an der Trennstelle fest zusammen. Es tönt wieder lauter.
Morgen spendiere ich zwei meiner Nubert-Notkabel.
"Mensch, toll hast du das hingekriegt!" Wieder blitzt das weibliche Augenpaar in der mir hinlänglich bekannten Weise. "Klasse, der Ton. Was meinst du, Gerd?" Triumphierend hebt sich die Stimme der Gastgeberin in der Gewissheit, ihrem Göttergatten nach 15jähriger Ehe eins ausgewischt zu haben. "Klar, du hast völlig Recht. Dieser Sickenzerfall. Fehlkonstruktion der 70er Jahre. Konnte ja nicht gut gehen nach so vielen Jahren, Schatz. Und die Lautsprecher aus dem Schlafzimmer stellen wir hier ins Regal. Und die andere Box ans Fenster." Das befreundete Ehepaar frohlockt. Tolle preiswerte Lösung. "Kannst die alten Boxen gleich mitnehmen, wenn du willst. Sonst bring ich sie der Lebenshilfe zum Ausschlachten. Die taugen nämlich nichts mehr. Übrigens: Eigentlich sollten wir mal wieder Essen gehen!"
Alles hat sein Gutes. Vor allem der Sickenzerfall.
Gruß
OL-DIE
P.S. : Das Foto des "reparierten" Tieftöners ist mindestens so hart wie die Rückstellkraft seiner "Sicke".
Guckst du hier .
habe am Wochenende mal wieder ein Schlüsselerlebnis gehabt: Ein Freund rief an und lud mich und meine Frau zum Abendessen beim Italiener ein, weil ich seinen Rechner in einer mehrstündigen Aktion von 145 Viren und ebenso vielen Trojanern befreit hatte und die Kiste wieder normal lief.
Das Abendessen war prima, die Stimmung ebenso und so luden er und seine Frau uns noch zu sich nach Hause ein. Das ließen wir uns selbstvertändlich nicht zweimal sagen und kamen der Aufforderung, noch gemütlich ein Fläschchen italienischen Rotweines zu genießen, gerne nach. Während unserer Gespräche über die Wechselfälle des Lebens, welche durch die beiden Damen um immer überraschende Wendungen bereichert wurden, sprachen wir Männer über Surfbretter, Autos und auch ein wenig über sonstige Technik. Stolz wurde mir hierbei ein Oldtimer der besonderen Art vorgeführt: Eine Pioneer HPM-40 Box. Ein Kracher der späten 70ern aus damaligem Schrot und Korn.
Gegen Mitternacht wurde ich schläfrig. Der Klang der Boxen konnte mich überhaupt nicht überzeugen. Meine Frau übrigens auch nicht. Müde, lustlos und seltsam bassschwach ergoss sich eine matte Klangkulisse leise in den Raum. "Waren damals sehr teuer, weißt du", wurde ich aufgemuntert, "haben auch einen unheimlichen Bass!". Seltsamerweise blieb der mir ebenso verborgen, wie der Grund dafür, die dunklen Kästen direkt auf den Boden der Raumecken zu stellen. O.K., die Grünlilie auf dem rechten Quader und der junge Säulenkaktus auf dem Linken sahen gesund aus. Was aber nicht für den Klang der Untersetzer galt.
Wieso war der so dünn? In einer Raumecke! Auf dem Boden! Natürlich, einer der LS war verpolt und arbeitete gegenphasig, schon klar. Mit einem beherzten Griff zum Balanceregler drehte ich dem rechten Töner den Klang ab und lauschte nur dem linken Gegenstück. Immer noch basschwach. Hm. "Hatten die mal mehr Bass? So vor 10 Jahren oder so?". "Ja, da kannst du Recht haben. War früher schon mal besser. Aber weißt du, ein Bekannter hat die mal vor ein paar Jahren repariert. Da haben die Tieftöner so komisch geschnarrt." Eine dunkle Ahnung stieg in mir auf. Behende turnte mein Freund zur linken Box und zog mit einem zugegegebenermaßen gekonnten Griff die Bespannung ab.
Es war nicht der Rotwein, der mir beim Betrachten der reparierten Tieftöner fast die Beine wegzog.
"Er hat mir gesagt, dass man das so machen könnte. Na ja, sieht schon ein bisschen komisch aus. Hat er irgendwie mit Filzstreifen und einem Lack hingekriegt und jetzt schnarren sie nicht mehr!" sagte er leichthin und betrachtete meine entgleisten Gesichtszüge. "Schon gut," meinte ich resignierend "aber da hätte er besser mal die Tieftöner ausgetauscht und durch ein passendes Modell ersetzt". "Hast schon recht, wäre aber teurer geworden!" Stringente Logik erfüllt den Raum. Ich ertaste die lackierte Membran des Tieftöners und das raue steinharte Gewurstel, welches sich vor Jahren vergeblich anschickte, eine reparierte Zentrierung zu werden. "Sickenzerfall. Die vordere Zentrierung bestand vermutlich aus ungeeignetem Material. Da kannst du überhaupt nichts dafür. War eine falsche Werkstoffwahl in den 70ern. Ehrlich. Und der Filz hat den Lack aufgesaugt und ist hart geworden wie die Leber eines Trinkers. Und nun machen die Tieftöner keinen Hub mehr. " Das Gesicht meines Bekannten hellt sich auf. Die Situation scheint gerettet.
"Sittenverfall??" tönt es aus der Umgebung des Couchtisches. Zwei weibliche Augenpaare flammen mich an. Frau wittert hochinteressantes Männergespräch. Erwartet umfängliche Aufklärung. "Ach so, was technisches. Hättest du doch gleich sagen können."
Hab ich doch gesagt. Könnt mir halt nicht zuhören. Immer das Gleiche. Ein müder Blick auf die Uhr verrät mir, das Mitternacht gerade vorüber ist.
"Du," flötet es von der Couch "wir haben im Schlafzimmer noch zwei Boxen. Die stehen schon 15 Jahre da. Sind aber nicht angeschlossen. Soll ich die mal holen?" Ich werde munter. Lautsprechertechnisch kann es eh nicht schlechter werden. "Klar, wenn es dir nichts ausmacht, würde mich schon interessieren.". "Die hab ich mir vor unserer Ehe angeschafft, weißt du. Aber mein Mann wollte immer seine großen Boxen hier im Wohnzimmer haben." Ah ja. Interessante Wendung. "Sind von Revox!" Ich bin schlagartig glockenwach und schaue in zwei erwartungsvoll blickende Augen. Den Blick kenne ich auch von meiner Frau. Danach wird es eigentlich immer irgendwie spannend.
Elfengleich schwebt die Hausfrau mit einer hübschen Kompaktbox im Arm zurück ins Wohnzimmer. Wieder der herausfordernd erwartungsvolle Blick der dem Mann Tatkraft abfordert. Null Problemo.
Ich Gockel - du Henne. Ist immer wieder schön. Aber nur in Gedanken. Wohl doch zu viel Rotwein.
Die alten Plärrer sind schnell abgeklemmt. Hingen eh nur an Klingeldraht. Die zweite Box wird gereicht. Nicht zu fassen. Behende den Säulenkaktus und die Grünlilie auf den Boden gestellt und Platz geschafft für die kleinen Revox aus den frühen 80ern. Irgendwas von Monitor 3 steht auf der Rückwand der damals typischerweise geschlossenen Boxen. Unangenehm die Klipp-Fix Anschlussklemmen der selben Zeit. Die fassen bloß ausgedünnte Lautsprecherkabel. Aber an der vorhandenen Magerkost-Litze gibt es eh nichts auszudünnen. 1 : 0 für den Klingeldraht.
Die schmucken Revox-Regalboxen der 80er stehen auf den Bassreflex-Wummerkisten der 70er. Soundcheck.
Sie hatten es halt drauf, die Schweizer. Ausgeglichener, lebhaft-freudig strahlender Klang macht sich breit. Sehr schön zum Anhören. Auch mit Klingeldraht. Kein Pseudobass, kein extremer Tiefbass. Aber stimmiges Klangbild. Macht heute noch Spaß. Kurzer Sicken-Check nach Abnahme eines Gitters. Prima, stabile Gummisicke. Fühlt sich an wie ein Fahrradschlauch. Nichts bröselt.
Die rechte Box wird leiser. "Ach ja, bei der hab ich mal das Anschlusskabel verlängert. Hab leider keinen Lötkolben. Verdrillt hab ich's. Mit Isolierband und so." Ich bringe ungeahnte Kräfte auf das erneute Entgleisen meiner Gesichtszüge zu verhindern. Und quetsche das PVC-Band an der Trennstelle fest zusammen. Es tönt wieder lauter.
Morgen spendiere ich zwei meiner Nubert-Notkabel.
"Mensch, toll hast du das hingekriegt!" Wieder blitzt das weibliche Augenpaar in der mir hinlänglich bekannten Weise. "Klasse, der Ton. Was meinst du, Gerd?" Triumphierend hebt sich die Stimme der Gastgeberin in der Gewissheit, ihrem Göttergatten nach 15jähriger Ehe eins ausgewischt zu haben. "Klar, du hast völlig Recht. Dieser Sickenzerfall. Fehlkonstruktion der 70er Jahre. Konnte ja nicht gut gehen nach so vielen Jahren, Schatz. Und die Lautsprecher aus dem Schlafzimmer stellen wir hier ins Regal. Und die andere Box ans Fenster." Das befreundete Ehepaar frohlockt. Tolle preiswerte Lösung. "Kannst die alten Boxen gleich mitnehmen, wenn du willst. Sonst bring ich sie der Lebenshilfe zum Ausschlachten. Die taugen nämlich nichts mehr. Übrigens: Eigentlich sollten wir mal wieder Essen gehen!"
Alles hat sein Gutes. Vor allem der Sickenzerfall.
Gruß
OL-DIE
P.S. : Das Foto des "reparierten" Tieftöners ist mindestens so hart wie die Rückstellkraft seiner "Sicke".
Guckst du hier .