An den im Ausgangspost thematisierten Zusammenhang zwischen Vermehrung/Fortpflanzungsfähigkeit oder auch nur Bestandskraft einer Gesellschaft und dem Vorhandensein von Religion glaube ich nicht. Ich habe die verlinkten Beiträge alle nicht angeschaut, dazu fehlt mir die Zeit. Wenn ich dennoch einige Argumente aufgreifen darf: Ich kenne auch keine komplett areligiöse Gesellschaft, weder in der Geschichte noch heute. Selbst wir Ossis hatten noch Kirchen, im übrigen hatte die Verehrung von Marx, Engels, Lenin und zeitweise Stalin/Ulbricht durchaus auch quasireligiöse Züge. Insofern fehlt es m.E. an einer seriösen Vergleichsmöglichkeit. Meines Erachtens - und das sagen nach meiner Kenntnis auch die klugen Menschen, die sich mit Bevölkerungsentwicklung befassen - besteht dagegen ein klarer Zusammenhang zwischen Bildung und Anzahl der geborenen Kinder. Auch weil diesbezüglich ungeachtet aller Probleme selbst in den ärmsten Gegenden der Welt Fortschritte erzielt werden, gibt es mittlerweile seriöse Rechenmodelle, die ein Ende des Bevölkerungswachstums und damit auch einen Rückgang der Weltbevölkerung vorhersagen (hier ein Szenario: http://www.zeit.de/2014/07/szenario-sch ... voelkerung.
Zu den Off-Topics: Mir geht's ähnlich wie Dir, Sencer.
Ich bin der Sohn eine evangelischen Pfarrers und führe heute - obwohl immer noch Mitglied der Kirche - ein sehr atheistisches Leben. Ich kann mit den gemäßigt religiösen Kräften jeder Religion gut leben, habe aber ein tiefes Mißtrauen gegen Fundamentalismus jeder Art (egal ob es ultraorthodoxe Juden, evangelikale Christen, extrem konservative Katholiken oder Salafisten sind).Sencer hat geschrieben:Ich bin als Moslem "geboren" und aufgewachsen und heute Atheist.
Im Bereich der christlichen Welt haben sich nach meinem Eindruck die gemäßigten Elemente weitgehend durchgesetzt, bedingt durch Humanismus und Aufklärung sowie die daraus resultierende Dominanz der Wissenschaften über den Glauben, wie Genussmensch das richtig beschreibt. Was in diesem Punkt die Trennung von Staat und Kirche angeht, habt Ihr nach meinem Eindruck beide ein bisschen recht: Von der reinen Lehre her ist das Christentum eine eher staatsferne Religion. Punkt an Genussmensch. Dennoch war die christliche Religion bzw. die jeweilige Konfession bis mindestens zum Ende 17. Jahrhunderts (also nach dem Dreissigjährigen Krieg, nach den Türkenkriegen) für die europäische Gesellschaft derart prägend, dass diese Trennung faktisch nicht existiert hat. Sie wurde im 18. Jahrhundert durch die Aufklärung neu erkämpft.
Der Dreissigjährige Krieg gibt mir noch ein Stichwort: Das war in der christlichen Tradition der letzte wirklich durch religiöse Streitigkeiten verursachte Krieg. Danach hat man sich mehr oder weniger darauf verständigt, dass Religion und Konfession kein Grund für Kriege mehr sein sollen. Vorher hat man sich aber bis zur totalen Erschöpfung bekämpft. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in den Jahren 1618 - 1648 wäre nach heutiger Definition ein failed state, auf dessen Gebiet sich alle möglichen Warlords (Wallenstein, Pappenheim), die regulären Mächte (Kaiser und Reichsfürsten), ausländische Mächte (Schweden, Dänen, Holländer, Briten und Franzosen) in wechselnden und teilweise extrem unübersichtlichen Koalitionen bekämpft haben. Wenn ich mir die Situation anschaue, die heute im Nahen Osten herrscht, fallen mir unübersehbare Parallelen auf: gescheiterte Staaten en masse; Sunniten gegen Schiiten gegen Aleviten; Ausländische Mächte mit eigenen Interessen (religiösen wie wirtschaftlichen); Privatarmeen etc. etc. Mit anderen Worten: Mir kommt es gerade so vor, als mache die islamische Welt derzeit so etwas wie "ihren" 30jährigen Krieg durch. Hoffen wir, dass auch dort irgendwann die Erschöpfung eintritt. Angesichts der dortigen Ölvorräte und der daraus resultierenden Möglichkeit, unbegrenzt Waffen nachzuschieben, bin ich da allerdings ein bisschen pessimistisch.
Gruß CT (und auch sorry für OT im zweiten Teil)